Weinend stehen ich am Fuss einer langen und steilen Treppe. Ich bin nicht traurig, nur erschöpft. Die letzten vierundzwanzig Stunden haben mich fertig gemacht. Nicht von Anfang an, denn als Reisende ist man so manches gewohnt und wir nehmen Herausforderungen gerne an. Doch wir sind erst seit achtundvierzig Stunden in Argentinien. Und schon weine ich.
Meine Tränen vermischen sich mit lautem Fluchen. Eigentlich kam das Fluchen den Tränen zuvor.
Ich steige die Treppe wieder hoch, die ich zwei Minuten zuvor runtergerannt bin. Es ist saukalt und trotzdem schwitze ich unter meinen drei Pullis. Denn ich bin heute viel gerannt.
Etwa vor genau vierundzwanzig Stunden möchten wir auf einem schönen und uns empfohlenen Parkplatz parken, um dort die Nacht zu verbringen und am nächsten Tag zu wandern.
Der Parkplatz ist mit umgefallenen Bäumen übersät, weshalb wir frohen Mutes weiterfahren. Wir finden einen Campingplatz. Der Einzige in der Gegend.
Der Campingplatz ist etwas heruntergekommen. Die Frau, welche mir entgegenläuft mit der Absicht mich abzuzocken, auch.
Wir bleiben trotzdem, denn es wird mit jeder Stunde kälter und wir brauchen eine warme Stube und eine Küche, denn wir können in unserem Van weder kochen noch heizen. Nicht das wir das nie können. Nur heute besteht dieses Problem, denn unsere grosse Gasflasche muss nachgefüllt werden.
Gefüllt wird diese aber nur von einem Mann in der Stadt. Oscar.
Oscar macht gerne Siesta und deshalb müssen wir bis am nächsten Tag warten, um unser Gas aufzufüllen.
Das ist nicht weiter schlimm, denn wir kochen in der rustikalen Küche des Campings unser Abendessen. Nur die Nacht wird kühl. Nein, eher kalt. So kalt, das wir nur noch die Hälfte von unserem Bett im Van brauchen und uns wie Pinguine gegenseitig wärmen.
Am nächsten Morgen wird uns beiden schlagartig klar, weshalb wir so gefroren haben.
Alles ist weiss! Es hat die halbe Nacht geschneit und es schneit noch immer.
Nach dem Frühstück sitzen wir eingepackt im Van. Wir sind gut gelaunt. Klammheimlich hoffen wir beide jedoch, dass wir mit unserem 95er Ford Transit gut durch den Schnee kommen. Diesen Gedanken wandelt Stefan in einen Witz um: „Hoffentlich springt er noch an!“
Wir beide lachen.
Eine Minute später ist es vorbei mit lachen.
Denn der Wagen springt nicht an. Paco macht merkwürdige Geräusche. Immer wieder, bis er keine mehr macht.
Paco ist nicht irgendein Anhalter, den wir mitgenommen haben. Nein, Paco ist unser vierundzwanzigjähriger Ford Transit Van. Er ist mit allem ausgestattet, was wir für unser „Vanlife“ brauchen. Er hat die richtige Grösse, zwei Betten, eine Küche, Staumöglichkeiten, ist weiss (super für Fotos!) und fährt mit Diesel. Würde er. Wenn er fahren würde.
Das sowas mal passiert, ist zu erwarten. Aber am zweiten Tag!
Ja, wir haben Paco erst vor zwei Nächten gekauft!

Während Paco’s Geräusche verklimmen, dämmert uns, dass seine Batterie wohl leer sein muss. Wir können ja schon anstrengend sein, aber das er schon nach zwei Tagen mit uns schlapp macht?
Wir brauchen ein anderes Auto um die Batterie zu überbrücken. Nichts leichter als das, oder? NEIN! Nicht dort wo wir sind! Denn wir sind alleine auf dem Camping irgendwo im nirgendwo und ausserhalb der Saison interessiert sich sowieso niemand für die zwei Camping Gäste.
Weiter weg sehe ich ein Haus mit zwei Autos vornedran. Ich renne dort hin.
Die Holztüre öffnet sich, nachdem ich zwei mal mit meiner gefrorenen Faust dagegen klopfe. Auf der anderen Seite der Türe steht eine mollige Dame im Unterrock. Ich scheine sie geweckt zu haben. Sie ist trotzdem freundlich und ich schildere ihr unser Problem auf Spanisch. Eher Italienisch-Spanisch (meine Art Spanisch zu sprechen, wenn es schnell gehen muss).
Autos sind nicht ihr Thema und deshalb ruft sie Carlos. Carlos riesiger behaarter Bauch kommt aus dem Hinterzimmer hervor, gefolgt von Carlos selbst.
Zu meinem Erstaunen erklärt mir Carlos, dass die beiden Autos vor seinem Haus keine Batterie haben.
Ich renne zurück zu Stefan und Paco.
Gemeinsam suchen wir nach der Telefonnummer des Camping. Die werden uns ja wohl helfen können.
Das Problem ist, wir können nur über das minderwertige Wifi in der rustikalen Küche telefonieren. Aus dem einfachen Grund, dass Telefongesellschaften in Argentinien auch lieber Siesta machen und wir deshalb am Tag zuvor keine Sim-Karten kaufen konnten. Der Sim-Karten-Kauf ist für heute geplant. Wäre er. Wenn der Van anspringen würde.
Zum Glück hat die Telefonnummer des Camping WhatsApp und ich rufe dort an.
Carlos weiss wie man mich zum Staunen bringt, denn er ist die Person, die meinen Anruf entgegennimmt. Er verspricht mir seinen Freund vom Automobilklub Argentinien anzurufen und zu uns zu schicken.
Diese glorreiche Idee hatten sein behaarter Bauch, seine Dame im Unterrock und er selber vor 10 Minuten noch nicht.
Der Mitarbeiter des Automobilklub Argentinien überbrückt unsere Batterie heldenhaft und empfiehlt uns zum nächsten Mechaniker zu fahren. Einem für Elektrodinge, denn jeder Mechaniker in Argentinien hat sein Spezialgebiet und ein Mechaniker für den Motor wird deine Batterie nicht anfassen.
Durch die Überbrückung der Batterie macht Paco wieder angenehme Dieselmotorgeräusche und wir fahren los. Kaum aus dem Camping, verfahren wir uns. Kaum haben wir uns verfahren, gibt Paco wieder den Geist auf.
Das geht uns langsam auf den Geist.
Ich reagiere schnell und renne wieder los. Zurück zum Camping, denn unser Helfer steht vielleicht immer noch dort. Er musste ja noch seinen alten Freund Carlos begrüssen.
Diesmal muss ich weiter rennen und die kalten Schneeflocken knallen auf mein Gesicht. Nach fast fünfzehn Minuten komme ich am Camping an und das Automobilklub-Auto ist schon weg. Ich störe noch einmal Carlos, welcher wieder für uns telefoniert.
Mit gesenktem Kopf laufe ich Richtung Stefan und Paco, die wahrscheinlich schon ungeduldig auf mich warten. Ein Wagen hält neben mir. Ich erkenne das Auto an den Signalfarben und an dem Mann am Steuer, der mit mitleidigen Blick mir das Zeichen gibt einzusteigen.
Ich sehe zwar nicht aus wie eine Mitarbeiterin des Automobilklubs, aber Stefan freut sich trotzdem mich zu sehen, als ich aus dem Auto steige.
Wir wiederholen die Batterie-Überbrückungs-Geschichte und fahren danach langsam aber stetig in die Stadt Bariloche.

Der Mechaniker, der übrigens einen Tessiner Namen trägt, checkt unsere Batterie und versichert das alles in Ordnung ist. Wir sollten sie nicht wechseln. Nach mehrerem Nachfragen hat er uns überzeugt und wir fahren erleichtert und verunsichert weiter.
Am nächsten Tag können wir endlich unser Gas abholen. Zuvor müssen wir aber an Bargeld kommen. Dies konnten wir bis jetzt noch nicht, denn kein Geldautomat funktionierte die letzten zwei Tage. Wir machen uns auf den Weg zur Post, welche Western Union anbietet und wir warten geduldig bis wir unser erstes argentinischen Geld in den Fingern halten.
Paco hat sich in der Zwischenzeit einen grünen Zettel eingefangen. Eine Parkbusse! Es den Argentiniern nachzumachen und am Strassenrand zu parken war wohl keine gute Idee. Auf dem Zettel steht wir müssen die Busse innerhalb fünf Tagen bezahlen, sonst passiert irgendwas. Mein Spanisch reicht nicht für mehr Infos. Nur eine Adresse erkenne ich noch.

Oscar hat unser Gas gefüllt und ich bezahle ihn mit argentinischen Scheinen.
Da wir lange auf der Poststelle auf ebendiese Scheine warten mussten, ist nun schon fast wieder Zeit für die Siesta und ich muss schnell einen Mobilfunkanbieter finden, der mir eine Sim-Karte verkauft, bevor alle Geschäfte für fünf Stunden schliessen.
Zum Glück muss ich nicht weit rennen, denn am Eck sehe ich einen Movistar-Shop. Movistar ist der führende Mobile-Anbieter hier. Jackpot!
Übrigens, Stefan sitzt in unserem Van, während ich mich ums Gas und unseren zukünftigen Handy-Empfang kümmere. Das tut er nicht, weil er faul ist. Nein, er möchte einfach sicher gehen, dass wir nicht noch eine Parkbusse bekommen.
Die netten Damen von Movistar machen grosse Augen, da ich plötzlich und ausser Atem vor ihnen stehen und erkläre, ich bräuchte eine Sim-Karte. Sie erklären mir, ich müsse die eine Strasse ganz runter gehen und dort nach links.

Schnell! Es ist zehn vor eins! Das ist das südamerikanische fünf vor zwölf. Ich habe noch zehn Minuten bis alle Geschäfte „Adios, hasta pronto!“ sagen.
Eigentlich sollte ich Stefan Bescheid geben, dass ich nun länger weg sein werde und er mich nicht an dem Ort finden kann, wo er mich erwartet.
Das kann ich aber nicht, denn wir haben ja beide keine funktionierende Sim-Karte.
Ich stehe also an der Ecke und muss mich entscheiden, ob ich zurück zu Stefan laufe, um ihm Bescheid zu geben oder die Minuten nutze, um schneller bei dem Geschäft zu sein, welches mir die Movistar-Damen empfohlen haben.
Ich fühle mich wie Lola rennt und treffe schnell eine Entscheidung.
Wie Lola renne ich also los und versuche die fünfminütige Strecke in zwei Minuten zu schaffen. Ob es mir gelungen ist, weiss ich nicht. Aber ich laufe noch eine lange und steile Treppe hinunter, dort hin, wo der Handy-Laden sein sollte.
Aber da ist nichts! Überhaupt nichts!
Ich fluche! Und ich weine! Ich weine, damit mein fluchen mehr Ausdruck bekommt. Oder einfach nur weil ich erschöpft bin.
Geschlagen von Bariloche steige ich die Treppe wieder hoch und sehe auf meiner Uhr das es gleich ein Uhr ist.
Immerhin finde ich Stefan und Paco dort wo ich sie stehen gelassen habe.
Gemeinsam fahren wir zu der Adresse, die auf dem grünen Zettel steht. Zum Glück ist diese etwas ausserhalb Bariloche, denn wir wollen nur noch weg von dieser Stadt und unsere Reise beginnen.
An der besagten Adresse finden wir einen Busterminal mit einem ersten Stockwert, indem sich allem Anschein nach die Verkehrspolizei eingenistet hat.
Ich betrete ihr Nest mit dem Zettel und Bargeld.
Meine Tränen sind schon lange wieder getrocknet und ich mache den ganzen Prozess (Nummer ziehen, warten, reden, warten) mit und darf dann schlussendlich an die Kasse und bezahle umgerechnet 40 Euro. Soviel wie wir in der Schweiz für eine solche Busse bezahlen würden.
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Aber das macht nichts, denn als ich die Quittung in die Hand gedrückt bekomme, weiss ich, dass wir nun endlich unser Abenteuer durch Südamerika starten können!
Da ich nun auf der Glücksschiene bin, sehe ich im Busterminal einen Kiosk mit dem Stern von Movistar. Ich betrete den Kiosk und die viele Schokolade lässt mich fast vergessen, weshalb ich eigentlich den Kiosk aufsuche.
Ich hatte heute noch keine Zeit zu essen und die lila Schokolade würde meinen Hunger vielleicht stillen. Die Verkäuferin schaut mich an und ich frage sie nach einer Sim-Karte.
Sie hat wahrscheinlich noch nie jemanden so strahlen gesehen, der eine Sim-Karte kauft.
Paco, Stefan und ich strahlen gemeinsam um die Wette, als wir kurz darauf mit schnurrendem Motor auf die Ruta 40 fahren.
Ich beisse in die Schokolade und sehe Bariloche im Rückspiegel verschwinden.

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